Indien
Gela1
Figur
Wiki

Mysore, 29. April 1991

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Liebes Tantchen!

Weil ich Dich auf dieser Reise so vermisse, schreib ich Dir diesen Brief. Ich denk viel an Dich, zum Beispiel wenn ich Lustiges oder Kurioses erlebe, wie wir da lachen würden. Oder auch, wenn mich etwas stark beeindruckt, wie der junge Mann heute früh vor dem Hotel, der mich bat, mich zu ihm ins Gras zu setzen. „Mein Chauffeur“ Wiki meinte, ich soll das ruhig tun. Ich bekam eine Privatvorführung in Sachen Nagelschlucken. Der Junge hat wirklich mindestens ein Dutzend große, rostige Nägel verschluckt! Und ich saß direkt vor ihm und konnte zusehen. Wie hat er das gemacht? Keine Ahnung. Ein Bakschisch hat er sich jedenfalls verdient.

Du weißt ja, dass ich ursprünglich mit meiner Kollegin Gerti, die hier in Bombay arbeitet, diese Reise machen wollte. Gerti wohnt in einer gut bewachten, modernen Wohnanlage. Sie hat eine nette Haushälterin, die sehr gut kocht und täglich kommt eine Masseuse, eine rundliche, ältere Inderin, die auch mich für 50 Pfennig Ganzkörper massierte. So was von super!

Ansonsten hat sich Bombay zum Alptraum entwickelt. In der ersten Nacht nach meiner Ankunft bekam Gerti hohes Fieber. Und ich habe ihr kalte Fußwickel gemacht Am Morgen ging’s besser und sie ging ins Büro. Doch in der zweiten Nacht kam das Fieber wieder, noch heftiger. Sie kam in die Klinik: schwerer Typhus! Da saß ich also allein in Bombay in ihrer Wohnung. Das war vielleicht ein Schock! Zum einen musste ich ab da meine Zeit in Indien allein verbringen, zum anderen hatte ich Panik, auch krank zu werden. Das hat sich inzwischen wieder gelegt. Seit ich unterwegs bin leide ich an Verstopfung, weil ich mich tagsüber nur von Bananen ernähre.

Du kannst Dir nicht vorstellen, wie heiß es hier ist und wie hoch die Luftfeuchtigkeit. Meine seidenen Blusen kann ich nicht tragen, die sind in fünf Minuten durchgeschwitzt. Es geht nur Baumwolle. Bombay – ein Horror! Schon allein die Fahrt vom Flughafen in die Stadt: Die Schnellstraße führte durch elendste Slums. Das hatte ich im Leben noch nicht gesehen. Und der ganze Schmutz in der Stadt. Und überall schlafen und wohnen Menschen, ganze Familien, auf der Straße, unter Brücken. Und Bettler gibt es ohne Ende. Manche ohne Beine, ohne Arme, oder irgendwie ganz schief verkrüppelt. Und Kleingeld ist knapp. Die Bettler betteln, auch wenn das Taxi hält kommen sie ans Fenster. Und ich würde ihnen allen so gern etwas geben und habe wieder kein Kleingeld. Keiner hat hier Kleingeld! Niemand kann wechseln. Das macht mich ganz krank.

Wenn ich in Bombay das ganze Elend, den Schmutz, die Hitze, die vielen Menschen nicht mehr ertragen konnte, gönnte ich mir eine Auszeit und ging ins vornehme Taj Mahal Teetrinken. Das Hotel liegt direkt neben dem Gate of India. Mit dem Boot bin ich auch schon zur Elefanteninsel gefahren. Die müsste eigentlich Affeninsel heißen, weil es dort Unmengen frecher Affen gibt. Für die Inder ist das eine Ausflugsinsel. Sie besuchen die Höhle mit den Shiva-Figuren, die aus dem Berg gehauen sind. Das sind alles Eindrücke, unglaublich.

Besonders schön find ich die Saris der Inderinnen, in allen Farben leuchtend. Alle Frauen sehen gut darin aus, egal wie jung oder alt, dünn oder dick. Toll! Anderes ist nicht so toll. Habe in Bombay ein Cola getrunken und dabei gezählt, wieviele Männer in dieser Zeit an die gegenüber Hauswand der Universität gepieselt haben. So im Schnitt alle drei Minuten einer. Kein Wunder, dass ganz Bombay in eine Kloakengeruchswolke gehüllt ist. Um dagegen anzustinken, werden überall Räucherstäbchen abgebrannt. Ich habe mir Sandelholzpaste in Würfelform gekauft. Den Würfel drapiere ich auf dem Nachttisch, dort duftet er vor sich hin.

Gerti hatte die Reise ja schon über eine örtliche Reiseagentur vorgeplant und so beschloss ich, sie alleine durchzuziehen. Eine nette junge Dame kam ins Haus und machte die Buchung mit mir. Ich sollte in den Süden reisen, weil es dort um diese Zeit nicht ganz so heiß ist wie im Norden. Der Monsun steht vor der Tür. Schiss hatte ich, aber wie! Zur Beruhigung hat mir Gertis indischer Kollege seine Telefonnummer gegeben. Ich könne anrufen, falls ich Hilfe brauche. Er ist ein Parse, d.h. er hängt einer alten persischen Religion an, bei der es um Feuer und Licht geht. Früher bestatteten die Parsen ihre Toten auf den „Türmen des Schweigens“, wo die Leichname von Geiern gefressen wurden. Die letzte Bestimmung: Vogelfutter. Andere Länder, andere Sitten. Ich habe gelesen, die Parsen sind auch sehr sozial, bestimmt habe ich deshalb seine Telefonnummer bekommen. Ich unbedarftes Münchner Hascherl allein im tiefsten Indien. Da hat er geholfen.

Und dann kam ich in Goa an. Hier war auf einmal alles christlich. Statt Krischna baumelte in den Autos am Armaturenbrett die Jungfrau Maria. Der Fahrstil ist allerdings in ganz Indien der gleiche, halsbrecherisch. Das Hotel war nett, mit lauter indischen Urlaubern. Ich hab mich zu einem Ausflug angemeldet. Mit dem Bus ging’s Strände besichtigen. Wir fuhren von einer Bucht zur anderen, sind ausgestiegen, ein bisschen mit den Füßen im bacherlwarmen Wasser rumgewatschelt und dann wieder rein in den Bus. Im Bus: nur Inder und ich. Ein junges Ehepaar hat mich unter seine Fittiche genommen. Mir alles auf Englisch erklärt. Und dann hat alle paar Minuten jemand gefragt, ob ich mich für ein Foto dazustelle. Ich war eine Attraktion.

In den Pool vom Hotel habe ich mich nicht getraut. Der kam mir nicht so sauber vor. Und der Indische Ozean ist viel zu warm und zu flach. Es war sehr heiß, dazu diese Luftfeuchtigkeit. Mehrmals am Tag fiel die Klimaanlage aus. Ich saß dann da, habe mich nicht mehr bewegt und trotzdem tropfte mir der Schweiß auf das Buch in meinem Schoss.

Dann ging es per Flugzeug nach Bangalore. Am Flughafen holte mich in einer altmodischen, englischen Limousine „mein Privatchauffeur“ namens Wiki ab und wir fuhren gleich weiter nach Mysore. Abgestiegen bin ich im Quality Inn, wo ich jetzt abends im Hotelzimmer sitze. Wie mir scheint ist das ein Mittelklassehotel für indische Geschäftsleute. Wiki bringt mich ins Hotel und holt mich wieder ab. Er übernachtet und isst nicht hier. Das ist blöd. So wie das ganze Kastensystem.

Wenn wir unterwegs sind, sitze ich hinten im Fonds, die Autofenster sind runtergekurbelt, vorne baumelt ein Bild von Krischna, der mir nicht ganz geheuer ist, und Wiki fährt wie ein Henker. Er arbeitet mit mir das Sightseeing-Programm ab und ist herzallerliebst. Er hütet mich wie seinen Augapfel, damit mir nur ja nichts passiert. Sobald ein Kokosnuss-Verkaufsstand in Sicht kommt, fragt er mich: „Madam, do you like a coconut?“ Und ob! Denn: Von Kokusnussmilch kann man keinen Typhus bekommen.

Wiki fährt mich zu Tempeln, Palästen, Museen und Nationalparks. Mittagessen im Hotel, nachmittags wieder Besichtigungen, Abendessen im Hotel und Übernachtung. Echt anstrengend, aber toll, vor allem die Überlandfahrten durch die grüne Landschaft in der Limousine. Die Dörfer, die Straßen, die vielen Menschen, die ihre Intimsphäre auf die Straße verlegt haben, die Ochsenkarren (Hauptverkehrsmittel) und natürlich die heiligen Kühe – sie sind wirklich überall, sie liegen auf der Straße, stehen im Buswartehäuschen ... unvorstellbar. Und es gibt sie in Mengen, diese sanftmütigen Welternährerinnen. Eigentlich müssten alle Tiere heilig sein!

Dann ging’s für zwei Tage zurück nach Bangalore, wieder Sightseeing. Heute war ich in einem Nationalpark: Konnte freilebende Tiger, Löwen und Elefanten vom vergitterten Safariwagen aus bewundern und fotografieren. Gell, das tät Dir auch gefallen?

Vor dem Bettgehen gab’s dann noch eine Überraschung. Ein riesiger Kakerlak saß auf meiner Klobrille.

Die ganzen Tempel, Götter, Mönche, Heiligen, Fakire usw. sind total beeindruckend. Konnte sogar Tempelriten mitmachen. Auch mir wurde ein Punkt aufs Hirn gemalt und dann bekam ich wie alle dort Betenden etwas Wasser in die Hände gegossen, das man trinken sollte. Ich traute mich nicht, es zu trinken. Typhus! Panik! Was tun? Ich hab mir das Wasser über den Kopf geschüttet.

Es wird auch geopfert in den Tempeln, Blumengirlanden, Kokosnüsse und so. Waren bei einem Heiligtum, wo die Götterfigur geputzt und gesalbt wird. Götter gibt’s viele und ich bring immer noch alle durcheinander. Es ist faszinierend und ich weiß nicht so recht, was ich von dem Ganzen halten soll. Dieser Hinduismus ist mir unheimlich. Die Götter sind zum Teil sehr grausam und flößen mir Angst ein. Es soll hier noch richtige Heilige und echte Wunder geben. In München würde ich das für Unsinn halten. Aber hier? Hier halte ich alles, aber echt alles, für möglich. Bin schwer verunsichert. Andere Welt, andere Realität. Ach Tantchen, es wäre so schön, wenn Du auch hier wärst und wir das alles bequatschen könnten. Die Abende allein im Hotel sind öde und langweilig. Ausgehen mag ich nicht, zum einen weil’s allein keinen Spaß macht, zum anderen, weil ich doch ein bisschen Schiss hab.

Ich bin hier die absolute Exotin. Jeder dreht sich nach mir um. Im Moment sind überhaupt keine ausländischen Touristen unterwegs, überall nur Inder, auch hier im Hotel. Die Boys strahlen mich an, wie wenn ich’s Christkindl wär. Einer springt sofort zu mir in den Lift, wenn er mich sieht, und starrt mich mit großen Augen an, bis ich im dritten Stock aussteige. Und neugierig sind sie, jeder fragt das Gleiche: Wie ich heiße, woher ich komme, wieviele Kinder ich hab, ob ich verheiratet bin und was ich arbeite. Und dann im höchsten Erstaunen: „You are alone here, Madam?“ Dass ich hier allein unterwegs bin, kann ich doch selber kaum fassen!

Das Essen ist fantastisch! Ich glaube ich werde ein Fan der indischen Küche. Wenn Du mal wieder nach München kommst, müssen wir unbedingt indisch essen gehen. Ich werde dich beraten.

Stell Dir vor, gestern geh ich ins Hotel-Restaurant. Bin gegen Mückenstiche (Malaria!), obwohl ich weit und breit noch keine einzige Mücke gesehen habe, in eine Autan-Wolke gehüllt. Da sagt doch der Kellner zu mir: „Madam! What a wonderful smell! It’s a wunderful parfum! It’s from Paris, isn’t it?“ Ich konnte mir das Lachen kaum verbeißen. Die Resochin-Tabletten gegen Malaria vertrag ich nicht, deshalb nehme ich sie nicht mehr. Ich wurde darauf ganz zittrig, nervös und schlief sehr schlecht. Das beeinträchtigte mein Wohlbefinden ziemlich, weil doch alles recht anstrengend ist und ich meinen Schlaf brauche.

Die Leute in den Hotels, die Fahrer, Führer und alle, mit denen ich zu tun habe, sind ganz lieb, höflich, aufmerksam, zuvorkommend. Auf der Straße sind die Händler und Bettler aufdringlich und nervig.

Im Großen und Ganzen war diese Indienreise ein tolles Erlebnis. Nur leider, allein ist’s halt nur halb so schön.

Morgen fliege ich zurück nach Bombay. O graus. Mit dem Rückflug gab’s Probleme. Ich stand nur auf der Warteliste. Und das geht jetzt auf keinen Fall, der Rückflug muss schon sicher sein, weil ich am Montag ja wieder nach München flieg. Mit Alitalia über Rom. Du wirst es nicht glauben, aber darauf freue ich mich schon, weil ich mich wirklich von den ganzen Aufregungen, Neuigkeiten und Strapazen erholen muss ... too much!

Es grüßt Dich mit dickem Bussi

Deine Gela

 

Literaturempfehlung: Suketu Mehta „Bombay. Maximum City“, Süddeutsche Zeitung Bibliothek, 2010
             V.S. Naipaul „India. A Million Mutinies Now“, Minerva Paperback, 1990
             Detlef Kantowsky „Bilder und Briefe aus einem indischen Dorf, Qumran, 1986
und viele andere...

Film: „Der Stern von Indien“ (Viceroy’s House), R: Gurinder Chadha, GB/Indien., 2017
und viele andere...

 

 

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